Bildungsaufbruch: G8 und doppelter Abiturjahrgang 2012

Veröffentlicht am 31.05.2008 in Veranstaltungen
Publikum

Die Veranstaltungsreihe „Bildungsaufbruch“ des SPD-Kreisverbandes Calw wurde im Otto-Hahn-Gymnasium Nagold unter dem Thema "G8 und doppelter Abiturjahrgang 2012" fortgesetzt.

Durch die Verkürzung der Gymnasialzeit von neun auf acht Jahre sind Schüler, Schülerinnen und ihre Eltern, die Gymnasien und Lehrer, vor schwierige neue Aufgaben gestellt. Darüber hinaus haben aber auch die Universitäten, auf die ein doppelter Jahrgang zukommt große Probleme zu lösen. Auch das duale Ausbildungssystem, auf dem jetzt schon Lehrstellen fehlen, wird durch den doppelten Jahrgang zusätzlich unter Druck geraten. Diese Problematik zu beleuchten und Lösungen zu diskutieren war das Ziel der Veranstaltung der Kreis-SPD Calw vergangenen Dienstagabend im Foyer des OHG Nagold, das dafür freundlicherweise zur Verfügung gestellt worden war. Podium Auf das Podium waren hochkarätige Fachleute und Praktiker und Vertreter der Eltern geladen:
  • Prof. Dr. Wolfgang Schlicht, Prorektor für Lehre, Universität Stuttgart,
  • Michael Plocher, Leiter der Hauptabteilung Berufsbildung, Handwerkskammer Karlsruhe,
  • Elvira Böhrer-Hauk, Vertreterin des Elternbeirats des OHG,
  • Johannes Baumann, Rektor des Gymnasiums Wilhelmsdorf,
  • Sylvia Wiegert, Vertreterin des Landeselternbeirats für die Gymnasien im Regierungspräsidium Karlsruhe und
  • Norbert Zeller MdL SPD, Vorsitzender des Landtagausschusses für Schule, Jugend und Sport.
Der Kreisvorsitzende Richard Dipper führte nach der Begrüßung der Gäste in das Thema ein: „Mitte der neunziger Jahre platzte in Deutschland eine Seifenblase: nämlich die Illusion, das deutsche Bildungssystem sei das Beste der Welt. PISA TIMMS, IGLU und andere internationale Vergleichsstudien brachten es an den Tag: Unser Bildungssystem beschert uns im internationalen Vergleich nur einen bescheidenen Platz im unteren Drittel der verglichenen Länder, ist chronisch unterfinanziert und Primus nur in der sozialen Selektivität. Nirgendwo anders hängen Bildungschancen der Kinder und Jugendlichen so sehr vom sozialen Status der Eltern ab wie bei uns.“ Richard Dipper Seitdem werde am Bildungssystem herumgedoktert, wirksame Reformen aber scheiterten bisher an ideologischen Grabenkriegen. Nur ein auf allen Ebenen des öffentlichen Lebens geführter bildungspolitischer Dialog, der zu einem gesamtgesellschaftlichen Konsens über Bildungsreformen führe, könne weiterhelfen. Dazu wolle die SPD mit ihrem Bildungsaufbruch: “Bessere Bildung – jetzt!“ beitragen. In diesem Rahmen organisiere die Kreis-SPD ihre Veranstaltungsreihe zur Bildungspolitik. In dieser dritten Veranstaltung gehe es um die G 8 –Reform, wobei nicht die Verkürzung als solche hinterfragt werden soll - wenngleich sich über deren Sinn sicher auch streiten ließe, sondern drei Aspekte stünden im Mittelpunkt:
  • die unmittelbaren Rahmenbedingungen für die Umsetzung an den Gymnasien
  • was kommt auf Hochschulen und duale Ausbildung durch den doppelten Abiturjahrgang zu
  • was muss die Politik tun um Probleme zu lösen
Nach einem Grußwort von Walter Kinkelin, Rektor des Otto-Hahn-Gymnasiums, eröffnete Prof. Dr. Wolfgang Schlicht mit einem Statement zu Problemlage der Hochschulen die Debatte. Er führte aus, dass durch die - politisch gewollte - Zunahme der Studentenzahlen der letzten Jahre bei zurückgehenden finanziellen und personellen Ressourcen schon jetzt eine eklatante Mangelsituation an den Universitäten herrsche. Die dadurch vorhandenen personellen und räumlichen Probleme würden sich noch einmal deutlich verschärfen, wenn 2012 ein doppelter Abiturientenjahrgang an die Hochschulen dränge. Bedauerlicherweise würde die Landesregierung die Hochschulen mit diesen Problemen weitgehend allein lassen. Wolfgang Schlicht Die zusätzlich in Aussicht gestellten Mittel reichten ja nicht einmal aus, die sowieso erwartete und gewünschte weitere Zunahme der Studentenzahlen aufzufangen, geschweige denn, die notwendigen Ressourcen für einen doppelten Jahrgang bereit zustellen. Zudem sei die Vergabe der Mittel seitens des Wissenschaftsministeriums an Bedingungen geknüpft, die ihrerseits mehr Probleme schafften als lösten. Das Argument, dass in den neuen Bundesländern noch eine ausreichende Kapazität an Studienplätzen vorhanden sei, um den Überhang der alten aufzunehmen sei schlicht falsch. Es würden bis 2020 etwa 550000 Studienplätze gebraucht, in den Ostländern seien aber nur etwa 140000 vakant, daraus ergibt sich, dass cirka 410000 Plätze fehlen. Michael Plocher Michael Plocher sah in den hohen Abiturientenzahlen eine Chance für Industrie und Handwerk. Er beklagte, dass Abiturienten eine duale Ausbildung bisher zu selten in Betracht zögen, obwohl verschiedene Aufstiegsmöglichkeiten, vor allem auch Wege in die Selbstständigkeit geboten würden. Diese Ausbildungswege würden von Abiturienten durch die absehbaren Engpässe an den Hochschulen in Zukunft wohl eher gewählt. Elvira Böhrer-Hauk wandte sich in ihren Ausführungen der praktischen Umsetzung des G8 zu. So werde laut einer Umfrage bei Eltern, Schülern und Schülerinnen der Schulzeitverkürzung zwar grundsätzlich zugestimmt, aber viele Umstellungsprobleme wurden beklagt. So seien z.B. die Lehrpläne noch nicht auf G8 umgestellt, es würde zunehmen nachmittags unterrichtet, obwohl das G8 nach wie vor als Halbtagsschule konzipiert ist, trotzdem gäbe es an diesen Nachmittagen Hausaufgaben usw. Die Hälfte der Schüler und Schülerinnen fühle sich überfordert. Elvira Böhrer-Hauk Viele Probleme seien Probleme des Bildungssystems an sich, sie würden durch die Einführung des G8 nicht gelöst, sondern verschärft: Lehrermangel, Mangelnde Aus- und Fortbildung der Lehrer und Lehrerinnen, zu hohe Klassenteiler, Lehrmethoden (Frontalunterricht) die nicht zu eigenverantwortlichem und selbstständigem Lernen befähigen, keine oder mangelhafte individuelle Förderung von leistungsschwachen, aber auch leistungsstarken Schülern, keine Hausaufgabenbetreuung in der Schule. Diese Mängel ließen sich nur durch ein pädagogisches Konzept für das G 8 als Ganztagsschule lösen. Dies sei kostenneutral nicht möglich, daher müssten mehr Ressourcen für die Bildung bereitgestellt werden. Johannes Baumann stellte die Effizienz von Schule und Unterricht in Frage, da beides an überkommenen Traditionen ausgerichtet sei und nicht an den Belangen und Anforderungen der heutigen Gesellschaft und Schülerschaft. Er kritisierte, dass nicht viel mehr von den Schülern und Schülerinnen und ihren Interessen her gedacht werde. Nur dann ließen sich Kriterien für ein effektives Lernen, bei dem eben Lehren und Lernen nicht mehr verwechselt würden, konzipieren. Baumann konstatierte, dass Gymnasiallehrer über eine hohe fachliche Kompetenz verfügten, aber Defizite im Bereich von Fachdidaktik, Pädagogik und Diagnostik hätten. Johannes Baumann Die wenigsten beherrschten innovative Methodenkonzepte, es würden Fächer gelehrt, nicht Schüler und Schülerinnen. Es fehle außerdem an unterstützenden Professionen: Sozialpädagogen, Sonderpädagogen, Medienpädagogen, Bibliothekare, Netzwerkbetreuer, Unterrichtsassistenten. Hinderlich sei auch die schleppende Umstellung des klassischen Lehrplans auf Bildungsstandards und die ebenso schleppende Reduzierung des Lernstoffs. Alles in Allem sei aber nicht die hohe Wochenstundenzahl – neben dem zuvor genannten - das Problem des achtjährigen Gymnasiums, sondern der Versuch trotz der erhöhten Stundenzahl das G8 als Halbtagsschule durchzuziehen. Das achtjährige Gymnasium müsse als Ganztagsschule ausgebaut, die zuvor genannten Mängel überwunden werden. Eine Ganztagsschule mit pädagogischer Konzeption lasse Schule zum Lebensraum werden, erlaube einen neuen Umgang mit der Zeit, so dass z.B. Hausaufgabenbetreuung und Nachhilfe in der Schule stattfänden. Dies sei auch ein unverzichtbarer Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit. Im Gymnasium Wilhelmsdorf seien diese Ansätze in ein eigenständiges pädagogisches Konzept eingearbeitet worden und dieses, soweit es die bestehenden Rahmenbedingungen zuließen, umgesetzt worden. Sylvia Wiegert ergänzte, dass die G8-Problematik nicht nur Baden-Württemberg beträfe, sondern dass momentan in insgesamt zehn Bundesländern diese Umstellung erfolge. Schon allein dadurch seien die Ausweichmöglichkeiten auf andere Bundesländer begrenzt. Ungelöst seien auch die Alltagsprobleme eines doppelten Abiturjahrgangs: woher soll in den Universitätsstätten ausreichender, bezahlbarer Wohnraum kommen, was ist mit den Kapazitäten der Mensen? Sylvia Wiegert Besonders schwerwiegend aber sei der Verdrängungswettbewerb: So sei zu erwarten, dass die Hochschulen ihre Zugangsbeschränkungen verschärften. Mehr Abiturienten in drängten in das duale Ausbildungssystem. Für Real- und Hauptschüler gäbe es dann noch weniger, bzw. gar keine Lehrstellen mehr. Diese seien die Leidtragenden der Reform. Wenn sich aufgrund dieser Umstände mehr Jugendliche als heute in Warteschleifen befänden, müssten sich die Verantwortlichen fragen lassen, was uns die verkürzte Schulzeit dann bringe. Norbert Zeller ergänzte die Ausführungen und Kritikpunkte der Vorredner aus politischer Sicht. Ihm sei die Blockade der Regierungsparteien hinsichtlich notwendiger bildungspolitischer Reformen unverständlich und nur mit ideologischen Scheuklappen zu erklären. Schließlich seien diese Reformen von pädagogischen Fachleuten gefordert und ihre Inhalte von diesen entwickelt. So hätten sich auch die hier anwesenden Fachleute für eine konsequente Ganztagsschule mit einem entsprechenden pädagogischen Konzept ausgesprochen. Ohne diese bliebe die G8-Reform halbherzig, ihre Probleme unlösbar. Norbert Zeller Deshalb fordere die SPD-Landtagsfraktion mit allem Nachdruck die flächendeckende Einführung der echten Ganztagsschule – keine Ganztagsschulen light, in der die Mütter dann wieder als ehrenamtliche Helferinnen die Nachmittagsbetreuung übernähmen. Darüber hinausgehend fordere die SPD ein längeres gemeinsames Lernen. In einem ersten Schritt sollten die Kinder wenigstens sechs Jahre zusammen bleiben. Das Ziel sei aber eine gemeinsame Schulzeit aller Kinder bis zum zehnten Schuljahr, mit einer sich anschließenden, zweijährigen gymnasialen Ausbaustufe. Pisa- Sieger wie unter anderem Finnland hätten gezeigt, das diese Schulform sehr erfolgreich sei. Auch der Frage der Finanzierung hätte sich die SPD-Landtagfraktion gestellt und ein durchgerechnetes Konzept vorgelegt. Nach ihren Impulsreferaten moderierten Experten und Elternvertreterinnen die drei Werkstatt-Foren, die sich thematisch an die schon genannten drei Schwerpunkte anlehnten. Man befasste sich vertiefend mit den aufgeworfenen Fragen. Die Teilnehmer hatten hier die Möglichkeit sich aktiv, d.h. mit Ideen, Kritik und eigene Erfahrungen mit dem Schul- und Bildungssystem, in die intensiven Diskussionen einzubringen. Saskia Esken Anschließend wurde im Plenum aus den Foren berichtet. Übereinstimmen wurde die Meinung vertreten, dass nicht die Einführung des G 8-Turbogymnasiums zu kritisieren sei, sondern deren mangelhafte Vorbereitung und Durchführung. Dadurch käme es zu den gravierenden Problemen, waren sich die Experten und Betroffene, Pädagogen und Elternvertreterinnen einig. Einig war man sich auch darin, dass nur durch die flächendeckende Einführung des G8 als Ganztagsschule mit pädagogischem Konzept, flankiert von Maßnahmen wie Verringerung des Klassenteilers, Professionalisierung etc., die auftretenden Probleme zu lösen sein. Insgesamt müssten für die Bildung mehr Ressourcen bereitgestellt werden. Bildungsausgaben seien Investitionen in die Zukunft und nicht Konsum, daher seien Bildungsausgaben nicht der Haushaltssanierung unterzuordnen. Hier sei die Politik gefragt. Politiker müssten in ihren Wahlkreisen immer wieder mit dem Thema, vornehmlich seitens der Betroffenen, konfrontiert werden, um sie zu diesem Paradigmenwechsel zu veranlassen.
 

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